Vom Held zum Herausforderer: Die neue Rolle des Timo Boll
Achtmal Europameister im Einzel, fünfmal im Doppel, siebenmal mit der Mannschaft: Deutschlands erfolgreichster Tischtennis-Profi Timo Boll hat im Laufe seiner langen Karriere EM-Titel gesammelt wie manche Fußball-Profis die Trikots ihrer Gegenspieler.
Am Sonntag beginnt in Schweden erneut eine Team-EM. Diesmal aber steht Boll vor einer Erfahrung, die er bislang nicht kannte. Der 42-Jährige muss sich empfehlen und um seinen Platz im deutschen Team kämpfen. Eine lange Verletzungspause und die starke interne Konkurrenz haben aus dem langjährigen Gesicht des deutschen Tischtennis eine Art Herausforderer gemacht. Denn bereits bei dieser EM vom 10. bis 17. September in Malmö geht es um Bolls eigentliches Ziel: die Olympischen Spiele 2024 in Paris.
Boll will nach Paris
Im Alter von dann 43 Jahren will Boll im nächsten Sommer unbedingt noch einmal an dem wichtigsten Sportereignis der Welt teilnehmen. Es wären seine sechsten Olympischen Spiele. Diese Aussicht motiviere ihn, «sich zu quälen», sagte er. Es ist aber längst nicht mehr so selbstverständlich wie 2004 in Athen, 2012 in London oder noch 2021 in Tokio, dass er es sportlich nach Paris schafft. «Ich würde als Bundestrainer nie einen Spieler nominieren, nur weil er Timo Boll heißt», sagte Jörg Roßkopf der Deutschen Presse-Agentur. «Das gibt es auf keinen Fall.»
Es sind gleich zwei Faktoren, die die Erfüllung von Bolls Olympia-Traum erschweren. In der ersten Jahreshälfte fiel er mehrere Monate mit einer Schulterverletzung aus. Die WM in Südafrika verpasste er komplett, bei den European Games kam er nicht zum Einsatz. Mangels Spielpraxis fiel die ehemalige Nummer eins der Weltrangliste in diesem Ranking bis auf Platz 66 zurück.
Und dann ist da noch die Konkurrenz: Dang Qiu ist Europameister im Einzel, Dimitrij Ovtcharov Olympia-Dritter von Tokio. Patrick Franziska gehörte über Jahre zu den Top 20 der Welt. Benedikt Duda gewann zuletzt WM-Silber und EM-Gold mit dem deutschen Team. Nur zwei von ihnen können 2024 in Paris im Einzel spielen. Ein weiterer Spieler erhält einen Platz im Mannschafts-Wettbewerb.
Harter Konkurrenzkampf
«Am Ende gibt es eine Nominierung, die mit Sicherheit hart ist», sagte Roßkopf. «Die war jahrelang deutlich einfacher, weil sich Ovtcharov und Boll als Einzelspieler immer herauskristallisiert hatten.»
2004 spielten Roßkopf und Boll sogar noch gemeinsam bei Olympia. «Timo und ich verstehen uns so gut, dass es am Ende ein offenes Gespräch und eine Entscheidung geben wird, mit der wir auf keinen Fall ein Problem haben werden - egal in welche Richtung es geht. Er soll bis zum letzten Tag darum kämpfen, bei Olympia zu spielen.» Und: «Wir wissen alle, wie häufig und wie schnell Timo Boll nach Verletzungen zurückgekommen ist.»
Die gesamte EM-Nominierung ist bereits dem Fernziel Olympische Spiele untergeordnet. Ovtcharov, Dang Qiu und Franziska sind in Malmö gar nicht erst dabei, weil sie nach den vielen internationalen Turnieren der vergangenen Monate eine Wettkampf-Pause und einen gezielten Formaufbau benötigen. Sie legen stattdessen eine mehrwöchige Trainingsphase in Düsseldorf ein.
Bei Boll ist es nach seiner Verletzung genau umgekehrt. «Die Matchpraxis bei der EM wird mir helfen, um schneller wieder zu meiner erwünschten Form zu kommen», sagte er vor dem Abflug nach Schweden. «Nach der langen Pause fehlt mir noch etwas der Instinkt. Aber körperlich bin ich in einem Zustand, der mir keine Sorgen mehr bereitet.» Jetzt brauche er vor allem eines: Wettkämpfe.
Deshalb ist der Rekord-Europameister von Borussia Düsseldorf bei dieser EM als Anführer eines vergleichsweise unerfahrenen Teams mit Duda (TTC Schwalbe Bergneustadt), Ricardo Walther (ASV Grünwettersbach), Cedric Meissner (1. FC Saarbrücken) und Kay Stumper (Borussia Düsseldorf) vorgesehen. «Für ihn ist es das erste Mal in seiner Karriere, dass er in solch einer Situation steckt», sagte Roßkopf. «Aber wenn das einer schafft, dann ist das Timo Boll.»
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