Viele Schüsse, viele Hinweise und viele offene Fragen
Nach dem mutmaßlichen Terroranschlag von München gehen die Ermittler Hinweisen auf ein islamistisches oder antisemitisches Motiv nach. Das sei aufgrund der bislang vorliegenden Erkenntnisse die «Arbeitshypothese», sagte die Leiterin der Bayerischen Zentralstelle zur Bekämpfung von Extremismus und Terrorismus (ZET) bei der Generalstaatsanwaltschaft München, Gabriele Tilmann. Botschaften des 18 Jahre alten Schützen aus Österreich mit Hinweisen auf ein Motiv seien bisher nicht gefunden worden.
Klarer ist die Motivlage bei einem Angriff auf eine Polizeiwache in Linz in Rheinland-Pfalz am frühen Freitagmorgen. Dieser war nach Einschätzung der Ermittler islamistisch motiviert. Dabei war ein mit Machete und Messer bewaffneter Mann nach Angaben der Ermittler um 2.40 Uhr auf der Polizeiwache erschienen und hatte wiederholt Allahu Akbar» («Gott ist groß») gerufen. Zudem habe er angekündigt, Polizisten töten zu wollen. Der Mann konnte überwältigt werden, Polizisten wurden nicht verletzt. Der 29-Jährige sitzt wegen versuchten Mordes in Untersuchungshaft. Ermittler fanden in seiner Wohnung an der Wand eine gezeichnete Flagge der Terrororganisation Islamischer Staat.
Mit Videospiel-Avatar Hinrichtungen nachgestellt
Grundlage für die Arbeitshypothese der Ermittler im Fall München sind Tilmann zufolge zum einen die Erkenntnisse österreichischer Behörden. Der 18-Jährige soll demnach unter anderem in einem Videospiel mit erstellten Avataren Hinrichtungen nachgestellt haben, sagte der Vizepräsident des bayerischen Landeskriminalamtes (LKA), Guido Limmer. Als im vergangenen Jahr gegen den jungen Mann ermittelt wurde, sei Material bei ihm gefunden, das auf Sympathien mit der islamistischen Organisation Haiat Tahrir al-Scham (HTS) hindeutete. Ob er diese zuletzt noch hatte oder eher mit dem IS sympathisierte, sei derzeit noch unklar, sagte Tilmann.
Zum anderen deuten laut Ermittlern Ort und Zeit auf ein solches Motiv hin: Der Täter habe am Jahrestag des Olympia-Attentats im Jahr 1972 in München auf das NS-Dokumentationszentrum und das israelische Generalkonsulat geschossen.
Nach Angaben aus dem österreichischen Innenministerium hatte der Vater des Angreifers von München seinen Sohn als psychisch auffällig wahrgenommen. Er sei ein intelligenter Schüler gewesen, der sich in der Pandemie-Zeit zu einem Einzelgänger entwickelt habe, hieß es. In der Schule sei er mit Sticheleien und Hänseleien konfrontiert gewesen.
Schüsse auf NS-Dokumentationszentrum und israelisches Konsulat
Insgesamt soll der 18-Jährige mit seinem Schweizer Wehrmachtskarabiner neun Schüsse abgegeben haben - erst auf Gebäude, darunter das NS-Dokuzentrum und das benachbarte Generalkonsulat Israels, das aber zum Zeitpunkt der Tat geschlossen war. Später schoss er offenbar auch auf Polizisten. «Die Kollegen haben eine Schussabgabe auf sich wahrgenommen. Wo er genau hingezielt hatte, muss man natürlich im Detail ausermitteln», sagte der Einsatzleiter der Münchner Polizei, Christian Huber.
Die Polizisten schossen den 18-Jährigen schließlich mit einer Vielzahl von Schüssen nieder. Ein Polizist und eine Frau erlitten Knalltraumata, der Angreifer starb noch vor Ort. Die beteiligten Beamten würden betreut, heißt es in einer Mitteilung der Polizei. Das Landeskriminalamt ermittelt standardmäßig zur Rechtmäßigkeit der polizeilichen Schussabgabe.
Karabiner von Sammler erworben
Seine Waffe hatte der Schütze nur einen Tag vor dem Anschlag von einem Sammler gekauft, wie Österreichs Generaldirektor für die öffentliche Sicherheit, Franz Ruf, berichtete. Der Karabiner mit montiertem Bajonett stammt nach LKA-Angaben zwar aus dem 19. Jahrhundert. Einsatzleiter Huber betonte aber, es handle sich um eine «Waffe mit massiver Durchschlagskraft».
Laut Generaldirektor Ruf hatte der 18-Jährige auch etwa 50 Schuss Munition für den Karabiner gekauft - obwohl für ihn wegen voriger Ermittlungen und Radikalisierungsverdachts eigentlich ein Waffenverbot in Österreich galt. Doch Karabiner gelten dort als Waffen der Kategorie C, die nach jedem Schuss händisch nachgeladen werden: Sie können ohne Waffendokument erworben werden und müssen erst bis zu sechs Wochen nach dem Kauf bei den Behörden registriert werden.
Bayerische Polizei hatte keine Informationen zum Schützen
Beweise für eine Radikalisierung oder islamistische Propaganda hatten österreichische Ermittler zwar nicht gefunden, doch zumindest hatten sie den 18-Jährigen auf dem Radar. In Bayern dagegen war der junge Mann mit bosnischen Wurzeln bis zu den Schüssen am Konsulat für die Landespolizei ein unbeschriebenes Blatt. Eine Abfrage der Datenbanken zu dem 18 Jahre alten Österreicher sei negativ verlaufen, sagte ein Sprecher des bayerischen Landeskriminalamts (LKA). «Wir haben keine Unterlagen zu ihm gehabt.»
Die Ermittlungen konzentrieren sich nach Angaben der Münchner Generalstaatsanwaltschaft nun einerseits auf das bisher nur vermutete Motiv, andererseits aber auch auf die Frage, ob es möglicherweise doch Mittäter, Helfer oder zumindest Mitwisser gegeben haben könnte. Eine Frage sei, ob der 18-Jährige in irgendeine Art von Netzwerk eingebunden gewesen sei, sagte ZET-Leiterin Tilmann.
18-Jähriger feuerte auch auf Nachbargebäude
Mit Blick auf das israelische Generalkonsulat und das NS-Dokumentationszentrum als mögliche Ziele des mutmaßlichen Anschlags wirft auch der Ablauf der Tat Fragen auf. Schilderungen der Polizei dazu deuteten darauf hin, wie dilettantisch der Mann seine Tat offenbar geplant hatte. So habe der 18-Jährige auch auf Nachbargebäude geschossen. Zudem sei er in zwei Gebäude eingedrungen, habe sich dabei verletzt und eine Blutspur hinterlassen. Einen Zaun zum israelischen Generalkonsulat habe er von einem Fahrzeug aus erklimmen wollen, aber nicht überwinden können.
Dass sein ursprünglicher Plan durchkreuzt werden könnte, dürfte dem Schützen aber wohl schon früh bewusst geworden sein: Eine vorbeifahrende Streife hatte ihn am Donnerstagmorgen bereits beim Aussteigen aus dem Auto entdeckt und gemeldet, dass er eine Waffe dabeihaben könnte. Kurze Zeit später war der 18-Jährige tot.
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