Russischer Großangriff bei Charkiw
Ein neuer russischer Großangriff bei der Millionenstadt Charkiw setzt die geschwächte ukrainische Armee noch stärker unter Druck. Nach der Vereidigung von Kremlchef Wladimir Putin für eine neue Amtszeit und dem pompös gefeierten Tag des Sieges in Moskau begannen russische Truppen einen Angriff auf die ukrainische Stadt Wowtschansk. Sie liegt etwa 40 Kilometer nordöstlich von Charkiw an der Grenze zu Russland.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj bestätigte den russischen Angriff, betonte gleichzeitig, dass die ukrainische Militärführung mit diesem Vorgehen des russischen Militärs gerechnet habe. «Die Ukraine ist ihnen dort mit unseren Truppen, Brigaden und Artillerie begegnet», sagte er nach Angaben der Agentur Ukrinform. «Aber unsere militärische Führung war sich dessen bewusst und hat ihre Kräfte so berechnet, dass sie den Feind mit Artilleriefeuer empfangen konnten.» Die russischen Angriffe seien somit gestoppt worden.
Am Morgen ab 5.00 Uhr Ortszeit (4.00 Uhr MESZ) seien feindliche Bodentruppen im Schutz von Panzerfahrzeugen vorgerückt, um die Verteidigungslinien zu durchbrechen, teilte das ukrainische Verteidigungsministerium in Kiew mit. Bislang seien die Angriffe abgewehrt worden, die Kämpfe dauerten jedoch in unterschiedlicher Intensität an. Unabhängig sind diese Angaben nicht zu überprüfen.
Nicht genannte Quellen im ukrainischen Militär sagten dem Portal Ukraijinska Prawda, vier Grenzdörfer Striletsche, Krasne, Pylne und Boryssiwka seien von russischen Truppen erobert worden. Sie liegen noch dichter an Charkiw, das seit Monaten heftigen russischen Luftangriffen ausgesetzt ist.
Das Verteidigungsministerium informiert
Über eine mögliche russische Offensive bei Charkiw wird seit Wochen spekuliert. Es gibt Berichte, dass die russischen Truppen dort mehrere Zehntausend Mann zusammengezogen haben. Für den Ernst der Lage spricht, dass das Verteidigungsministerium in Kiew sich dazu äußerte, nicht wie sonst der Generalstab. «Zur Verstärkung der Verteidigung an diesem Frontabschnitt werden Reserven herangeführt», teilte das Ministerium mit.
Schon am Tag zuvor sei der Frontabschnitt bei Wowtschansk von russischen Kampfflugzeugen aus der Luft mit Gleitbomben bombardiert worden. Über Nacht habe die russische Artillerie die ukrainischen Linien beschossen zur Vorbereitung des Angriffs.
«Die Streitkräfte der Ukraine halten ihre Stellungen: Es ist kein Meter Boden verloren gegangen», schrieb der Gouverneur des Gebietes Charkiw, Ihor Synjehubow, auf Telegram. Eine Gefahr für die Großstadt Charkiw sehe er einstweilen nicht. Der russische Militärblogger Rybar schrieb zu den Gefechten in der Region: Es gehe zunächst darum, die Kampfzone auszuweiten und im Gefecht die feindlichen Stellungen aufzuklären.
Russland nutzt Zeitfenster
Für die ukrainische Armee bedeutet die Offensive ein weiteres Problem an der etwa 1000 Kilometer langen Front im Osten und Süden, nachdem sie zuletzt schon bei Bachmut und Awdijiwka zurückgedrängt wurde. Den Verteidigern fehlen immer noch Waffen und Munition, nachdem innenpolitischer Streit in den USA über Monate einen regelmäßigen Nachschub verhinderte.
Mittlerweile ist ein milliardenschweres Rüstungspaket beschlossen. Doch Russland versuche die Zeit bis zum Eintreffen dieser Waffen an der Front auszunutzen, sagte der Kommandeur des ukrainischen Heeres, Olexander Pawljuk, der britischen Zeitschrift «Economist». «Russland weiß, dass sich die Lage gegen sie wenden könnte, wenn wir in ein bis zwei Monaten genügend Waffen bekommen.»
Die russische Seite des Grenzgebietes ist die einzige Region, die bislang vom Krieg erfasst worden ist. Die ukrainische Armee beschießt die Großstadt Belgorod und ihr Umland mit Drohnen und Artillerie. Sie will damit den russischen Nachschub stören und den Beschuss auf Charkiw unterbinden. Die Kämpfe auf russischem Boden waren für Moskau gerade während der Präsidentenwahl Mitte März ein Problem. Putin drohte damals an, ukrainisches Gebiet als Sicherheitszone zu erobern, um Belgorod und andere Städte in Grenznähe zu schützen. Die Ukraine wehrt seit mehr als zwei Jahren eine großangelegte russische Invasion ab.
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