Hassliebe Freibad - Was wir dort suchen und manchmal finden
Der Moment, wenn sie ganz für sich ist, ins Wasser eintaucht, das noch kühl ist, die ersten Züge macht. Für Kristine Bilkau ist er einer der schönsten bei jedem Freibadbesuch. Die Schriftstellerin und - in diesem Zusammenhang noch wichtiger - begeisterte Schwimmerin schreibt in ihrem aktuellen Buch «Wasser-Zeiten: Über das Schwimmen» aber genauso über die «Brüche», die wohl jeder kennt, der Abkühlung im Becken sucht. Denn ja, Freibad heißt eben auch: Slalom schwimmen, weil die Bahnen oft so übervoll wie die Mülleimer sind. Mit erhitzten Gemütern zurechtkommen, zuallererst dem eigenen. Oder sich schon wieder einen Sonnenbrand holen, während man am Imbiss ansteht. Man müsste das Freibad eigentlich hassen - wenn man es nicht so sehr lieben würde.
Genau das tun die Menschen in Deutschland: Durchschnittlich 382 Besuche pro Betriebstag verzeichneten die einzelnen Freibäder laut Daten der Deutschen Gesellschaft für das Badewesen (DGfdB) im vergangenen Jahr. Alle regnerischen Tage, an denen sich kaum einer ins Bad verirrt, miteingerechnet. Angesichts all der Probleme, die es am Beckenrand gibt, sind die guten Zahlen geradezu überraschend: Am schwerwiegendsten sei der Personalmangel, der häufig zu kürzeren Öffnungszeiten führe, sagt Ann-Christin von Kieter, Sprecherin der DGfdB. Hinzu kommt, dass etwas mehr als ein Drittel der rund 2800 Freibäder in den kommenden fünf Jahren umfangreich saniert werden müssen, wie eine Umfrage des Verbands kommunaler Unternehmen (VKU) jüngst ergab - die Fördergelder dafür aber kaum ausreichen dürften.
Und dann wäre da noch der größte Nervfaktor von allen. Der namens Mensch. Überall, nur nicht im dafür vorgesehenen Eimer, hinterlässt er seinen Müll. Vor allem mit den Zigarettenkippen werde es immer schlimmer, berichtet von Kieter. Außerdem sei «mangelnder Respekt» gegenüber dem Badpersonal zu spüren. Wobei - auch das sagt die Expertin - es sich bei Auseinandersetzungen wie im Berliner Columbiabad, das am vergangenen Sonntag zum wiederholten Male geschlossen wurde, um «Einzelfälle» in der deutschen Freibadlandschaft handele.
Schlüsselfaktor für die Entspannung
Was also zieht uns noch auf die Liegewiese und ins Chlorwasser? Eine Antwort gibt die Wissenschaft. «Viele Studien belegen, dass Orte mit Wasser den positivsten Effekt auf das Wohlbefinden haben. Küstenbewohner haben zum Beispiel eine größere Lebensqualität als Menschen in den Bergen. Und wenn es gerade kein Meer gibt, ist das Freibad eine gute Alternative», erklärt die Psychologin Felicitas Heyne. Obendrein löse Schwimmen Stress besser als jede andere Sportart, weil man gleichmäßige Bewegungen mache und gezwungen sei, die Atmung zu kontrollieren. Letzteres sei ein Schlüsselfaktor bei der Entspannung. Dass das Handy dafür im Schließfach bleibt, genießt wohl nicht nur Heyne selbst: «Wenn ich den Kopf unter Wasser habe, kann keiner etwas von mir wollen.»
Die andere Sache mit Freibädern ist mehr so ein Gefühl. Eine fast schon überhöhte Nostalgie, meint Schriftstellerin Kristine Bilkau. Aber irgendwoher komme das ja. «Ich glaube, es liegt an den langen Ferien. Kaum eine Familie fährt sechs Wochen in den Urlaub, so manche kann sich gar keine Reise leisten. Für Kinder und Jugendliche ist deshalb das Freibad seit Generationen der Sommerort, an dem sie zusammen sein und sich austoben können», sagt Bilkau.
Zu den schönen Erinnerungen an damals, an ihren Stammplatz und die große Decke, auf der sie mit ihren Freundinnen saß, kommen für die Autorin kleine, besondere Momente im Heute dazu. «Ich gehe gern bei Nieselregen ins Bad, wenn nur wenige Besucher dort sind und man sieht: Alle sind total beglückt. Man weiß genau, was der andere empfindet. Da entsteht eine Verbundenheit auf die eine oder andere Weise - mit Menschen, denen man so gar nicht begegnen würde.»
Soziologe rät zu Gelassenheit
Genau das, erklärt der Soziologe Professor Albert Scherr, sei das Besondere an Freibädern: «Es ist einer der wenigen Orte in unserer Gesellschaft, wo jeder hingeht und jeder hingehen kann, weil es keine Zutrittsschwellen wie hohe Eintrittspreise oder eine Kleiderordnung gibt.» Natürlich gebe es Konfliktanlässe. «Das Spannende ist doch aber eigentlich, dass es meistens gut geht. Man erlebt hier Vielfalt und kann die Erfahrung machen, dass sie in der Regel spannend und schön ist.»
Und wenn man angesichts von Handtuch-Tramplern oder Vordränglern an der Rutsche doch mal genervt ist, gar wütend wird? «Es hilft extrem mit der Gelassenheit, wenn man sein Gefühl von "Ich könnte zu kurz kommen" reflektiert. Unsere Kultur hat uns immer vermittelt, dass jedem alles zusteht. Das wird im Schwimmbad schon allein durch den mangelnden Platz eingeschränkt. Je mehr man sich zurücknimmt, je mehr man einschätzen kann, wann es sich zu kämpfen lohnt und wann nicht, desto besser geht es einem», sagt die Psychologin Katharina Ohana. Man spüre Selbstmacht, wenn man sich nicht von seinen Gefühlen mitreißen lasse.
Stattdessen könnte man sich mehr darauf fokussieren, was im Freibad eigentlich alles gut ist. Für Kristine Bilkau ist es neben dem Moment des ersten Ein- auch jener des Wiederauftauchens. In ihrem Buch beschreibt sie ihn übrigens so: «Nachdem ich 1500 Meter geschwommen war und an der Leiter aus dem Becken stieg, etwas kühlen Wind auf der nassen Haut, fühlte ich mich wie Wonder Woman. Schwimmen, so viel weiß ich inzwischen, löst keine Probleme, aber es kann für Klarheit und Mut sorgen, um sich ihnen zu stellen.»
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