Ukrainische Soldaten laufen über eine Straße in Bachmut. Geleakte US-Informationen zum Krieg in der Ukraine setzen nicht nur die USA unter Druck., © LIBKOS/AP/dpa
Ukrainische Soldaten laufen über eine Straße in Bachmut. Geleakte US-Informationen zum Krieg in der Ukraine setzen nicht nur die USA unter Druck. LIBKOS/AP/dpa, dpa
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Geheime US-Dokumente sind Störfeuer für die neue Kriegsphase

11.04.2023

Der Abfluss brisanter US-Informationen zum Krieg in der Ukraine setzt als einer der größten Geheimdienst-Skandale nicht nur Washington unter Druck. Klarkommen mit diesem Störfeuer müssen auch die beiden Kriegsparteien Kiew und Moskau vor der erwarteten ukrainischen Frühjahrsoffensive. Während sich Russland durch die Lageberichte und Zahlen zu Verlusten – angeblich bisher 43.000 russische getötete Soldaten – bloßgestellt sieht, versucht die Ukraine, den Schaden für die eigene Kriegsführung herunterzuspielen.

Die US-Experten bescheinigen den ukrainischen Streitkräften Schwächen - was Kiew nicht gefallen dürfte. Die Ukraine sei wohl trotz der Waffen und Munitionslieferungen nicht in der Lage, sich so viele Gebiete zurückzuholen wie bei der Offensive im vergangenen Herbst, berichtete die «Washington Post» unter Berufung auf die Dokumente. Zuvor hatte die «New York Times» schon berichtet, die Flugabwehr der Ukraine könne den russischen Angriffen nicht mehr lange standhalten. Vieles davon war zumindest in Ansätzen schon vor dem Auftauchen der Dokumente bekannt.

Seit Tagen aber kommen nun immer neue Details aus den Dutzenden Dokumenten ans Licht. Eigentlich kursierten die fotografierten Unterlagen schon seit Wochen auf der bei Gamern beliebten Plattform Discord. Sie wurden dann über große soziale Netzwerke wie Twitter und Telegram verbreitet, wo sie inzwischen gelöscht sind oder beseitigt werden. Aber vor allem US-Medien ordnen die Informationen weiter in ein größeres Bild – und schlachten den neuerlichen Geheimdienst-Skandal um undichte Stellen aus. Neben der Ukraine sind auch andere Länder von dem Leck betroffen.

Ähnlichkeiten zu Wikileaks

Einiges erinnert an die Veröffentlichungen von Wikileaks zum Krieg im Irak und Afghanistan oder an die Enthüllungen des Whistleblowers Edward Snowden, der 2013 das Ausmaß der weltweiten Überwachungs- und Spionagepraktiken der USA öffentlich machte und in Russland lebt. Wer diesmal hinter den Veröffentlichungen steckt, ist unklar. Aber die US-Behörden suchen fieberhaft nach dem Verräter.

In Russland breiteten Medien zwar mit Bedauern aus, dass die US-Geheimdienste offenbar bestens informiert sind über die militärischen Aktivitäten Moskaus. In den Zeitungen überwog aber die Genugtuung, dass der neuerliche Skandal vor allem das Vertrauen der westlichen Geheimdienste in die USA erschüttern und vielleicht Zwietracht säen könnte. Die USA könnten offensichtlich keine Geheimnisse für sich behalten, ätzte das Boulevardblatt «MK».

Kremlsprecher Dmitri Peskow sprach von «interessanten» Dokumenten, die die Verstrickung der USA und der Nato in dem Konflikt belegten, aber letztlich keine Auswirkung hätten auf Russlands Kriegsziele. Hauptnutzen für Moskau dürfte sein, dass die Unterlagen auch zeigen, wie tief die US-Agenten die russischen Strukturen durchdrungen haben. Moskau kann nun dank der aufgezeigten Kommunikationswege Verbindungen kappen. US-Medien wiesen auch darauf hin, dass Informanten nun in höchster Gefahr seien.

Gezielt gestreut?

Sowohl in Moskau als auch in Kiew wurde davor gewarnt, dass die veröffentlichten Unterlagen – wie in Kriegen oft üblich – eine gezielte Desinformationskampagne sein könnten. In der Ukraine bewertete der Berater im Präsidentenbüro, Mychajlo Podoljak, die «gefälschten Dokumente» zunächst selbstbewusst als «russische Geheimdienstaktion», um ein propagandistisches Störfeuer zu zünden vor der geplanten Frühjahrsoffensive. Ziel Moskaus sei es, den Westen und die Ukraine zu verunsichern. Da gab es längst klare Aussagen in den USA, die Informationen seien echt.

Die Experten der Enthüllungsplattform Bellingcat haben allerdings nachgewiesen, dass die Unterlagen zumindest teilweise im Nachhinein bearbeitet und etwa im Sinne Russlands geschönt wurden. Aber die ursprünglichen Unterlagen konnten ebenfalls rekonstruiert werden.

Präsidentenberater Podoljak meinte trotzdem, es sei kein Zufall, dass die Veröffentlichung ausgerechnet jetzt vor Beginn der lange angekündigten Frühjahrsoffensive komme. Er sieht Moskau als Quelle des Lecks. Ziel Russlands sei es, damit vom Wesentlichen abzulenken und eine Spaltung unter den Bündnispartnern hervorzurufen.

Podoljak versucht derweil, Nutzen aus der Lage zu ziehen – und den USA, die sich nun reumütig und noch hilfsbereiter zeigen könnten, um die Schlappe wettzumachen, noch mehr militärische Unterstützung abzuringen. «Wir brauchen weniger Nachdenken über "Informationslecks" und mehr weitreichende Waffen, um den Krieg richtig zu beenden und Russland mit der Realität zu konfrontieren», sagte der 51-Jährige.

Abhöraktion mit Folgen

Dabei dürfte Podoljak nicht übersehen haben, dass nach einem Bericht des TV-Senders CNN auch Präsident Wolodymyr Selenskyj abgehört wurde. Selenskyj soll geplant haben, militärische Stellungen in Russland zu beschießen. Das wiederum könnte die USA davon abgehalten haben, der Ukraine Raketen mit größerer Reichweite zu überlassen. Befürchtet wurde demnach in den USA, dass das dann China einen Vorwand geben könnte, Russland mit Munitionslieferungen zu unterstützen.

Dass Kiew, wie von US-Medien berichtet, wegen der Veröffentlichungen seine Pläne für die Offensive geändert hat, glaubt der ukrainische Journalist Witalij Portnikow indes nicht. «Man kann in diesen geheimen und hochgeheimen Dokumenten keine Informationen über die Gegenoffensive des ukrainischen Oberkommandos finden», sagt er in seinem Videoblog. Es gehe vor allem um Analysen zum Zustand der ukrainischen und russischen Streitkräfte, deren Ermüdung, ihre Bewaffnung, die Situation der Luftabwehr.

Trotz der von Kiew in der Öffentlichkeit demonstrierten Ruhe reagierte die ukrainische Führung noch am Freitag recht schnell. Auf einer Sitzung der Landes- und Militärspitze wurden Maßnahmen besprochen, um zu verhindern, dass weitere Informationen über die Gegenoffensivpläne an die Öffentlichkeit gelangen. Am Samstag versicherte der Sekretär des Sicherheitsrats, Olexij Danilow, im Radio, dass «nicht mehr als drei bis fünf Personen» Kenntnis davon hätten. Das mache einen Informationsabfluss wenig wahrscheinlich. Der russische Feind soll genauso wie die Öffentlichkeit erst von dem Gegenangriff erfahren, wenn es soweit ist.

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