G20-Gipfel droht Scheitern wegen Streit um Russland
Der G20-Gipfel der führenden Wirtschaftsmächte in Indien droht am Streit um eine klare Verurteilung des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine zu scheitern. Es sei schwierig vorherzusagen, ob es möglich sein werde, sich zu verständigen, sagte EU-Ratspräsident Charles Michel am Freitag vor Beginn des Treffens in der Hauptstadt Neu Delhi an diesem Samstag. Ein Grund sei, dass es anders als im vergangenen Jahr auf Bali für einige Staaten schwieriger scheine, einer klaren Verurteilung zuzustimmen.
Aus Delegationen wurde von einem harten Ringen der Unterhändler um die Formulierungen für eine Abschlusserklärung berichtet. Den Angaben zufolge stand dem Westen eine Allianz aus China und Russland gegenüber. Peking gilt als international wichtigster Partner Moskaus und hat den Angriffskrieg auf die Ukraine bisher nicht verurteilt.
Gastgeber Indien hofft auf eine gemeinsame Abschlusserklärung. «Wir arbeiten weiter an einem Konsens», sagte der indische Unterhändler Amitabh Kant. Indiens Fokus liege auf Anliegen des globalen Südens.
Zur G20 gehören - neben der EU - 19 der stärksten Volkswirtschaften der Erde. Die Runde ist ein zentrales Forum für die internationale wirtschaftliche Zusammenarbeit, beschäftigt sich inzwischen aber auch mit vielen anderen globalen Themen von der Terrorbekämpfung bis zum Klimaschutz.
Modi empfängt Biden
Der indische Premierminister Narendra Modi empfing US-Präsident Joe Biden am Freitagabend kurz nach dessen Landung in Neu Delhi. Bidens Regierung versucht, Indien als wichtigen Akteur stärker an sich zu binden. Ziel ist es, dem Machtstreben Chinas etwas entgegenzusetzen. Ergebnisse des Treffens wurden zunächst nicht bekannt.
UN-Generalsekretär António Guterres rief in der indischen Hauptstadt zum Kampf gegen die Krisen in der Welt auf. «Wir müssen zusammenkommen und geeint agieren für das gemeinsame Wohl.» Es bestehe die Gefahr zunehmender Konfrontation. Die G20 könnten helfen, den Übergang zu einer multipolaren Ordnung zu begleiten. Als eine der wichtigsten Aufgaben nannte er den Kampf gegen die Klimakrise.
EU betont Unterstützung für Kiew und Druck auf Moskau
EU-Ratspräsident Michel sagte: «Russland greift die Ukraine weiterhin an, tötet die Menschen und zerstört ihre Städte.» Deshalb werde die EU die Ukraine weiterhin unterstützen und Druck auf Russland ausüben. Der russische Krieg treffe auch andere Weltregionen. Mehr als 250 Millionen Menschen seien mit Ernährungsunsicherheit konfrontiert. Indem der Kreml ukrainische Häfen für den Getreideexport angreife, nehme er ihnen das Essen, das sie dringend bräuchten.
US-Finanzministerin Janet Yellen sagte auf die Frage, ob sie eine Einigung auf eine Erklärung mit einem Teil zum Ukraine-Krieg erwarte: «Wir sind bereit, mit Indien zusammenzuarbeiten, um ein Kommuniqué zu verfassen, das dieses Anliegen erfolgreich adressiert.» Es sei aber «eine Herausforderung».
Moskau wirft Westen Druck auf Indien vor
Russland warf den führenden demokratischen Wirtschaftsmächten (G7) Druck auf Indien vor. Der Westen versuche, dem G20-Abschlussdokument seine «einseitige Herangehensweise bei der Lage um die Ukraine» aufzuzwingen, teilte das Außenministerium in Moskau mit. Geopolitische Fragen, die «Krise in der Ukraine» und andere bewaffnete Konflikte sollten auf Ebene der Vereinten Nationen (UN) behandelt werden. Die UN kommen übernächste Woche zur Generalversammlung in New York zusammen.
Zur G7-Runde gehören neben Deutschland auch Frankreich, Italien, Japan, Kanada, die USA und Großbritannien. Die G7 verurteilen den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine und wollen diese Position auch in der G20-Erklärung widergespiegelt sehen.
Beim vorherigen Gipfel auf der indonesischen Ferieninsel Bali hatte sich Moskau 2022 offensichtlich auf Druck Chinas einverstanden erklärt, in die Abschlusserklärung den Satz aufzunehmen: «Die meisten Mitglieder verurteilten den Krieg in der Ukraine aufs Schärfste.» Russlands Position wurde mit den Worten abgebildet: «Es gab andere Auffassungen und unterschiedliche Bewertungen der Lage und der Sanktionen.»
Russland: Konzentration auf Weltwirtschaft und Entwicklung
Das russische Außenministerium betonte nun: «Wir sind überzeugt, dass die Entscheidungen der G20 nur auf Konsens beruhen sollten, ohne dass auch nur einziges ihrer Mitglieder ausschert.» Priorität habe eine Erklärung, die der Gesundung der Weltwirtschaft, der nachhaltigen Entwicklung und damit den Interessen aller Länder diene. Russland werde gegen Versuche des Westens kämpfen, die wirtschaftlichen und humanitären Probleme der Welt mit der Ukraine in Verbindung zu bringen.
Vertreten wird Russland in Neu Delhi von Außenminister Sergej Lawrow - er traf am Freitag ein. Russlands Präsident Wladimir Putin hatte den Krieg gegen die Ukraine am 24. Februar 2022 begonnen. Er bleibt dem Gipfel wie 2022 fern. Auch Chinas Staatschef Xi Jinping kommt nicht und lässt sich durch Ministerpräsident Li Qiang vertreten.
USA: Mehr Geld für Entwicklungsbank
US-Finanzministerin Yellen setzt auf Zusagen für eine stärkere Unterstützung ärmerer Länder. «Wir hoffen, dass andere Länder sich je nach ihren finanziellen Möglichkeiten uns anschließen werden.» Es soll auch um Geld für die Weltbank gehen. Die Entwicklungsbank leiht armen Ländern Geld zu günstigen Konditionen. So soll deren Wirtschaft gestärkt und Armut bekämpft werden. US-Präsident Joe Biden hatte den US-Kongress zuletzt um die Bewilligung von gut zwei Milliarden US-Dollar für die Weltbank gebeten.
«Diese Woche bietet auch die Gelegenheit, einen Schuldenerlass zu diskutieren» sagte Yellen angesichts der Schuldenkrise ärmerer Länder. Schon lange steht China unter internationalem Druck, Schuldenerleichterungen für arme Staaten zuzustimmen - nachdem diese Kredite in Peking aufgenommen hatten.
Geisterstadt Neu Delhi - Affen und Hunde vertrieben
Massive Sicherheitsvorkehrungen schränkten das öffentliche Leben in der Metropole Neu Delhi schon einen Tag vor Beginn des G20-Gipfels stark ein - Teile des Zentrums erinnerten an eine Geisterstadt. Viele Geschäfte, Schulen und Büros waren geschlossen. Mehr als 100.000 Sicherheitskräfte sollten in den Straßen patrouillieren. Vor dem Gipfel hatten sich die Behörden auch bemüht, die in Neu Delhi zahlreich lebenden Affen und Straßenhunde aus dem Stadtzentrum zu vertreiben.
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