Klimawandel hautnah - Steinmeier in der Arktis
Es ist ein weiter Weg, den Frank-Walter Steinmeier auf sich nimmt. Zweieinhalb Stunden lang fliegt der Luftwaffen-Airbus mit dem Bundespräsidenten an Bord von Vancouver aus nach Yellowknife, der Hauptstadt der Nordwest-Territorien Kanadas. Mit einer kleineren Propellermaschine geht es dann fast drei Stunden weiter nach Norden über den Polarkreis hinaus bis nach Tuktoyaktuk. Als Steinmeier und seine Delegation dort aus dem Flugzeug steigen, bläst ihnen ein eisiger Wind Schneeflocken ins Gesicht.
Steinmeier beendet seinen viertägigen Kanada-Besuch im hohen Norden, weil ihn seine Gastgeberin, Generalgouverneurin Mary Simon, die Vertreterin von König Charles als Staatsoberhaupt, in ihre Heimat eingeladen hat. Während zuvor viel von den guten deutsch-kanadischen Beziehungen in Politik, Wirtschaft und Wissenschaft die Rede war, geht es jetzt um ein ganz anderes Thema: den Klimawandel.
«Es passiert nicht in der Zukunft. Es passiert heute»
Doch warum soll man dafür hier hoch in diese Einsamkeit aus Eis und Schnee kommen, in der die verstreuten kleinen blauen, braunen und beigen Häuser der Siedlung fast wie Fremdkörper wirken? Simon hat darauf eine einfache Antwort: Weil sich hier die verheerenden Auswirkungen des Klimawandels auf Menschen, ihre Gemeinschaften, ihren Lebensstil beobachten lassen. Und zwar schon jetzt. «Es ist nicht theoretisch. Es passiert nicht in der Zukunft. Es passiert heute.» Simon könnte auch noch sagen: Und es passiert Menschen, die selbst gar nichts zum Klimawandel beitragen.
Im Gemeindesaal erläutert Bürgermeister Erwin Elias den deutschen Gästen kurz nach der Landung, was das für seinen Ort konkret heißt. Er wirft Fotos, Diagramme und Karten auf eine Leinwand. Zu sehen sind Häuser, die bei einem Sturm im aufgepeitschten arktischen Ozean zu stehen scheinen, der eigentlich zugefroren sein sollte. Elias trägt Berechnungen vor, wie die Halbinsel schrumpfen dürfte, wenn nicht gegengesteuert wird. Und er berichtet von der langwierigen Umsiedlung von Häusern. «Die eisige Schönheit, die wir hier sehen, ist bedroht», bringt Steinmeier es später auf den Punkt. In etwa 50 Jahren werde es große Teile dieses Ortes nicht mehr geben.
Woran liegt das?
«Die arktische Region ist die, die sich auf der Erde am schnellsten erwärmt. Wir sprechen da von einer viermal schnelleren Erwärmung als der globale Durchschnitt in den vergangenen 40 Jahren», erläutert Antje Boetius. Die Professorin begleitet Steinmeier. Sie ist die Direktorin des Alfred-Wegener-Instituts, das seit Jahrzehnten Polar- und Meeresforschung betreibt. Für den Permafrostboden bedeutet diese Entwicklung, «dass das, was seit Jahrtausenden verlässlicher harter Untergrund ist, sich in Schlammmassen verwandelt».
Die Folge: Bisher auf sicherem Grund stehende Häuser und Straßen sinken ab, werden unbewohnbar und unbefahrbar. Die Küste erodiert. Dies hat, so erklärt Boetius, noch eine weitere Ursache: den Rückgang des Meereises. «Dort, wo große Flächen des Ozeans eisfrei werden, hat der Wind eine Chance, starke Wellen aufzubauen. Und wenn Wellen gegen das Land klatschen, das ohnehin geschwächt ist, dann gibt es richtig schnelle Erosion.» Jedes Jahr frisst sich das Meer so meterweise in das schutzlose Land hinein.
Gut 900 Inuit wohnen in Tuk, wie die Siedlung kurz genannt wird. Sie leben zumeist vom Fischfang und von der Jagd. Steinmeier zeigt sich nach dem Gespräch im Gemeindesaal beeindruckt. «Es ist unglaublich, mit welcher Mühe, mit welchem Engagement, mit welchem Ehrgeiz die Menschen sich wehren gegen die Folgen der Erderwärmung.» Wie sehr sie für den Schutz der Natur kämpften. «Und wie sehr sie auch darum bitten, dass der Kampf gegen den Klimawandel in dieser unwirtlichen Gegend nicht allein ihnen überlassen wird, sondern dass das eine Aufgabe der ganzen Weltgemeinschaft wird.»
Auch eine Aufgabe Deutschlands, wie die Meeresforscherin Boetius deutlich macht. Denn: «Wenn das Meereis schwindet und der arktische Raum sich erwärmt, hat das auch auf unsere Wettersituation und auf die Extreme, die wir merken, erhebliche Wirkungen.» Zum Beispiel in Form von extrem späten und harten Nachtfrösten, die zum Ausfall von Ernten führen. «Was in der Arktis geschieht, bleibt dort nicht, sondern betrifft auch unser Leben», sagt Boetius.
Der Klimawandel in der Arktis bedroht auch die jahrhundertelangen Traditionen der Inuit, zu denen etwa das Eisangeln gehört. Darin darf sich zum Abschluss seiner Reise auch Steinmeier versuchen. Allerdings mit wenig Erfolg. Als er die Schnur aus dem Bohrloch im Eis zieht, zappelt daran: kein Fisch.
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